funakoshiEine kurze Zeitreise…

… in die Geschichte und Entstehung des Karate Do. Von der Wiege und Geburtsstätte der asiatischen Kampfkünste über die Shaolin-Tempel und Okinawa bis zum „Begründer“ des modernen Karate.


China – Wiege der asiatischen Kampfkünste

Fast 1500 Jahre lang hatte China die Schlüsselstellung bei der Entwicklung der Kampfkünste inne. Kampfsysteme, die in China entstanden und weiterentwickelt wurden, wurden schließlich von chinesischen Kampfkünstlern in andere asiatische Länder exportiert. Gleichzeitig müssen Menschen, die als Besucher, Händler oder Forscher in China weilten, dort die chinesischen Kampfsysteme erlernt und dieses Wissen mit in ihre Heimat gebracht haben. Außerdem war China auch das Land , in dem die philosophischen und religiösen Systeme entstanden und zur Blüte gebracht wurden, die die Grundlage vieler Kampfkünste bilden. Die Übertragung der Lehren von Lao-Tse, Konfuzius und Buddhamit seinem Nachfolger Bodhidharma ging Hand in Hand mit der Übertragung der chinesischen Kampfsysteme in viele asiatischen Länder, insbesondere nach Japan.

Dort erfuhren die Kampfkünste eine Weiterentwicklung und Verfeinerung, bis sie, zu japanischen Künsten geworden, in alle Welt exportiert wurden.


Die harten und die weichen Künste

Wir im Westen, die wir Schwierigkeiten mit der Komplexität und Vielfalt der Kampfkünste in China haben, haben uns an die Einteilung in zwei Schulen gewöhnt, die äußere harte Schule und die innere weiche Schule. Diese von den Chinesen gebrauchte Klassifizierung ist zwar praktisch, aber irreführend, da sie eine starre Grenze zwischen beiden suggeriert. Nach chinesischer Vorstellung enthält aber alles auch sein Gegenteil und bewegt sich ständig darauf zu. Diese Vorstellung findet in dem Begriffspaar Yin und Yang ihren Niederschlag. Bei den heutigen chinesischen Kampfkünsten gibt es nichts, was man als rein „harten“ Stil bezeichnen könnte. In allen harten Stilrichtungen gibt es weiche Techniken aus anderen Schulen, und sogar in der weichsten aller Kampfkünste, dem T’ai-Chi-Chu’uan, gibt es einige harte Techniken.


Der Shaolin-Tempel

In Nordchina, südlich der alten Hauptstadt Luoyang, breitete sich das Bergmassiv Haoshan aus. In den verworrenen Zeiten der Periode der Drei Reiche, zu Beginn des 3. Jahrhunderts, fand dort eine Gruppe buddhistischer Mönche Zuflucht. Nachdem sie sich auf dem unzugänglichen Berge Song niedergelassen hatten, begannen sie, eine Klosterfestung zu bauen, die die Klostergemeinschaft vor den Truppen der sich befeindenden Feudalherren und der grausamen Räuberbanden, die im Lande umherschweiften, schützen sollte. Nachdem sie mit Hilfe der Bauern einen Tempel gebaut hatten, der von einer massiven Steinmauer umgeben war, bepflanzten sie den Berggipfel mit jungen Kiefern, die mit der Zeit einen zuverlässigen Schutz gegen Wind gaben.

songshan-shaolinDas Kloster erhielt den Namen Shaolin – „Junger Wald“. Auf Einladung des Vorstehers Zhou Jing, der sich die Aufgabe gestellt hatte, die Sicherheit des Klosters mit allen verfügbaren Mitteln zu garantieren, weilten die beiden Meister der Kampfkünste Gun Suwei und Heng Gaizhang in Shaolin und lehrten den Selbstschutz. Nach einiger Zeit verfügte die Klostergemeinschaft über eine eigene kleine, aber wirksame Kampfformation. Der Landsitz des Klosters wurde erweitert, und sein Reichtum nahm zu. Als eine große Räuberbande Shaolin in Erwartung einer leichten Beute überfiel, wehrten die Mönche den Sturm nicht nur ab, sie vertrieben die Eindringlinge bis zum letzen Mann und machten eine reiche Beute. Gerüchte über die in Glückseligkeit getauchte Bergfestung verbreiteten sich im ganzen Lande.

Im 6. Jahrhundert besuchte ein anderer indischer Mönch namens Bodhidharma, den Shaolin-Tempel, wo er eine neue Form des Buddhismus lehrte, bei der man Stunden und Tage in statischer Meditation sitzend zubringen mußte. Seine Lehren wurden zur Grundlage einer neuen Schule der buddhistischen Philosophie, die in China Ch’an und in Japan Zen heißt. Damit die Mönche den Strapazen ihres religiösen Lebens gewachsen waren, lehrte er sie Atemtechniken und Übungen, die vermutlich die Basis der heutigen Kampfkünste waren.

Während der Blütezeit vor etwa 1300 Jahren gab es im Shaolin-Tempel 1500 Mönche, von denen 500 Kämpfer waren, sowie Ländereien, die die Mönche ernährten, und Gebäude, in denen sie untergebracht waren. Der Kaiser T’ai-Tsung (Li Shih-Min) aus der T’ang-Dynastie verlieh dem Tempel das Recht, eine Truppe kämpfender Mönche auszubilden. Als er einst in Gefahr war, erbat er beim Tempel Unterstützung, und 13 Mönche eilten ihm zu Hilfe. Von diesem Ereignis kündet eine Tafel, die noch heute im Tempel zu sehen ist.

Dieser einzigartige Tempel in der Weite der chinesischen Ebene hat das Gesicht der Welt in einer Weise geprägt, wie es nur wenige andere Orte für sich beanspruchen können. Wenn dieser Artikel eine Geschichte des Ch’an- (oder Zen) Buddhismus wäre, wäre es nicht weniger wichtig, auf die religiöse Geschichte des Shaolin-Tempels einzugehen. Er ist vielleicht noch am ehesten mit Athen in seinen fruchtbarsten Tagen zu vergleichen, denn so wie Athen das Denken von Generationen westlicher Menschen beeinflußt, so hat Shaolin die Philosophie des Ostens beeinflußt, vor allem durch die Gründung und Verbreitung des Ch’an (oder Zen) Buddhismus.


Okinawa

Im Jahre 1429 vereinigte König Shahashi die drei Gebiete Okinawas mit den Namen Nördliches Gebirge (Hokusan), Südliches Gebirge (Nanzan) und Mittleres Gebirge ( Chuzan, der Stammsitz von Sha) unter seiner Herrschaft. Da Shahashi jeden Versuch einer Meuterei von vornherein unterbinden und die Zentralgewalt stärken wollte, verbot er allen, mit Ausnahme der königlichen Truppen und der höchsten Feudalherren, das Tragen von Waffen. Das Volk war der Willkür der Beamten und Soldaten schutzlos ausgesetzt. Es konnte sich auch nicht gegen die räuberischen Banden zur Wehr setzen, die sich in geringer Zahl in den bewaldeten Hügeln der Insel versteckt hielten. Daher suchten viele Bauern Rettung beim Kempo. Sie setzen den bewaffneten Kräften ihren Willen, ihre Standhaftigkeit, ihre Schnelligkeit und ihren gut trainierten Körper entgegen.

okinawaAnfang des 17. Jahrhunderts wurde das Volk von Okinawa hart bestraft. Da sich das Königreich Ryukyu geweigert hatte, die Kriegsabenteuer von Toyotomi Hideyoshi in Korea (1592 und 1597-1598) zu unterstützen, überfiel Japan den Archipel und erreichte später unter der von dem Geschlecht der Tokugawa geführten Zentralgewalt eine japanische Oberhoheit. An der Operation nahmen 3 000 Samurai des ShimazuClans teil Die unbewaffneten Bewohner der Insel leisteten fast keinen Widerstand. Damit war das Schicksal des kleinen Königreichs besiegelt.

Okinawa verwandelte sich in ein Protektorat des japanischen Imperiums. Die Bevölkerung wurde mit Abgaben belegt und unterlag schweren Diskriminierungen.

Als Antwort töteten die Bauern Steuereinnehmer und plünderten kleine Samurai-Konvois. Daraufhin erließ der japanische Statthalter im Jahre 1609 einen zweiten, strengeren Befehl mit dem Verbot, Waffen zu tragen. Auf ganz Okinawa wurde – ähnlich wie in Japan im Jahre 1588 nach dem Befehl von Toyotomi Hideyoshi – eine „Jagd auf Schwerter“ veranstaltet (Katanagari). Bauern, Städter und sogar Mönche, bei denen man eine scharfe Waffe fand, wurden hingerichtet. Um jede Möglichkeit der Waffenherstellung auszuschließen, wurden die Schmieden in den Dörfern geschlossen und alle Haushaltsgegenstände aus Eisen beschlagnahmt. Zuweilen war je Dorf nur ein einziges Messer erlaubt, um die Rinder zu schlachten und die geschlachteten Tiere zu zerlegen. Dieses Messer war auf dem Zentralen Platz festgebunden. Ein Posten bewachte es und gab es nur gegen Unterschrift für kurze Zeit aus. 1669 wurde sogar die Herstellung von zeremoniellen Schwertern für den Bedarf der örtlichen Feudalherren und Priester untersagt. In den Häfen erfolgte eine außerordentlich strenge Kontrolle, um das Einschmuggeln von Messern und Dolche zu verhindern.

Die Bauern waren nicht in der Lage, sich der gut bewaffneten Armee mit bloßen Händen zu widersetzen, doch um einigen zügellosen Gewalttätern einen organisierten Widerstand entgegenzusetzen, genügten schon zwei bis drei Meister des Kempo. Die Bevölkerung Okinawas begann, sich zu Geheimsekten zusammenzuschließen und in den Dörfern aus Ansiedlungen Selbstschutzvereinigungen zu bilden. Doch wichtige Zentren für die Ausbreitung des Kempo waren in erster Linie Städte.

Das Kempo hieß zu jener Zeit auf den Ryukyu-Inseln einfach Okinawa-Te (te-jap. „Hand“, d. h. der „Nahkampf von Okinawa“) oder Tote (die „Wunderhand“). Auf Okinawa selbst wies der Te-Stil in den einzelnen Städten Unterschiede auf: Naha-Te, Shuri-Te und Tomari-Te. Während des gesamten 17. Jahrhunderts agierten die Te-Schulen im Untergrund. Alle Schüler legten einen Blutschwur ab, das Geheimnis zu wahren. Verriet jemand unter der Folter seine Kameraden an die japanischen Machthaber, dann erwartete ihn ein schreckliches Ende. Er wurde auf einem Boot weit hinaus aufs Meer gebracht. Dort ritzte man seine Haut leicht an und warf ihn ungefesselt ins Wasser. Auf den Geruch des Blutes hin sammelten sich Haie und zerissen den Eidbrüchigen.

Die Bewohner von Okinawa hatten in den Samurai erfahrene Krieger als Gegner, die mit allen Kniffen ihres Gewerbes aufs beste vertraut waren, und die Chance eines Sieges war gering. Doch für diese Chance wollten sie jeden Preis zahlen. Damals tauchte die Losung auf: “ Durch einen Schlag den Tod!“ Selbst „sportliche“ Zweikämpfe zwischen Rivalen führten gewöhnlich zu einem tödlichen Ausgang. Durch jahrelanges hartes Training wurden Arme und Beine in Waffen mit schrecklicher Zerstörungskraft verwandelt, die nach einem ausgeklügelten nicht vorhersagbaren Programm eingesetzt wurden. Besonderen Nachdruck legte man auf die Kräftigung der Arme und Beine , weil nur eine im wahrsten Sinne stählerne Faust den Panzer durchschlagen oder den Helm des Samurai zertrümmern konnte.

Im wesentlichen benutzte man alte chinesische Verfahren, obwohl ihnen viel Neues hinzugefügt wurde. So füllte der Schüler – um seine Finger zu kräftigen – einen Eimer mit Bohnen und begann systematisch mehrere tausendmal pro Tag mit geballten und geöffneten Händen auf die Bohnen einzuschlagen, bis unter den Fingern das Blut hervor spritzte. Ungeachtet des Schmerzes mußte er diese Übungen wochen- und monatelang fortsetzen, so daß die Fingerspitzen gefühllos wurden und sich in „Hörner“ verwandelten. Gleichzeitig mußte er seine Schlagkraft vergrößern, um schließlich die ganze Bohnenmasse bis zum Boden durchschlagen zu können. Genau die gleich Prozedur wurde dann mit Sand, mit feinem und mit grobem Kies und manchmal auch noch mit Bleikügelchen wiederholt. Nach mehreren Jahren hartnäckigen Trainings kostete es keine große Mühe, durch einen Schlag mit dem „Fingerspeer“ (Kanshu) die Bauchdecke eines Pferdes oder die Lende eines Rindes zu durchbohren und die Eingeweide herauszuziehen.

Die Faust wurde zuerst an einem einfachen Makiwara gestählt, einem fest geflochtenen, in Okinawa hergestellten Strohbündel. Der Makiwara war an einem den Schlag abfangenden Stock oder Brett befestigt und diente dazu, die Exaktheit der Schläge zu erhöhen und gleichzeitig auch die „Polsterung“ der Arme und Beine zu verbessern. Von dem Stroh ging man dann wiederum zu einem Sack mit Bohnen, dann zu einem Brett, zu Kieselsteinen und schließlich zu gehärtetem Eisen über. Es wurde auch empfohlen, die Fäuste abwechselnd in heißes und in Eiswasser einzutauchen. In der freien Natur dienten als Makiwara natürlich auch junge Bäume, die beim Schlag wie eine Feder zurückschnellten. Wurde der Schlag jedoch mit der erforderlichen Konzentration ausgeführt, dann konnte er sogar einen federnden Ast abbrechen und nach jahrelangem Training sogar ein Bäumchen fällen. Der gleichen Kräftigung wurden auch die Beine unterzogen, teilweise auch der Kopf. Untersuchungsergebnisse der letzten Jahre sprechen dafür, daß der Faustschlag im Karate Mittelwerte von 700 Kilogramm erreicht und der Schlag mit dem Bein mehr als eine Tonne. Möglicherweise haben die alten Meister, die ja ihr ganzes Leben dem Training widmeten, auch noch höhere Werte erreicht. Die Kräftigung der Extremitäten diente in erster Linie zur Entwicklung eines richtigen, sauberen, konzentrierten Schlages. Hier hat auch die im modernen Karate fest verwurzelte Praxis des Tameshiwari ihren Ursprung, ein Test, bei dem harte Gegenstände verbogen werden.


Die Philosophie des Okinawa-Karate

Okinawa ist reich an Parabeln, und Karate-Meister erzählen gerne die Geschichten von dem armen Fischer, dessen Schrein heute in einer Kleinstadt südlich von Naha steht. Dieser arme Mann hatte während der Zeit japanischen Besatzung von einem Samurai Geld geliehen. Als der Tag kam, an dem er seine Schulden bezahlen sollte, besaß er nicht einen Pfennig Geld. Als der erzürnte Samurai sein scharfes Schwert zog, um den Fischer zu töten, rief der arme Mann aus: “ Laß mich dir sagen, bevor du mich tötest, daß ich eben begonnen habe, die Kunst der leeren Hand zu erkennen, und dort brachte man mir als erstes bei, daß man niemals im Zorn zuschlagen dürfte.“ Der Samurai war so verblüfft über diese Worte, daß er den Fischer laufen ließ.

Als der Samurai spät in der Nacht nach Hause zurückkehrte, sah er, daß in seinem Schlafzimmer Licht war. Er schlich sich auf Zehenspitzen zu der angelehnten Tür und blickte durch den Spalt hinein. Zu seinem entsetzen mußte er sehen, daß seine Frau nicht allein im Bett war: Neben ihr lag ein Samurai. Von kalter Wut gepackt riß er sein Schwert heraus, um sich auf den Fremden zu stürzen, als ihm die Worte des Fischer einfielen: “ Wenn du angreifst, sei nicht zornig. Wenn du zornig bist, greife nicht an.“ Er ging also zurück und rief laut, daß er wieder da wäre. Im nächsten Augenblick trat seine Frau aus dem Schlafzimmer, begleitet von Ihrer Mutter, die Männerkleider anhatte. Diese erklärte ihm, daß sie sich als Mann verkleidet hatte, um eventuelle Eindringlinge abzuschrecken…

Ein Jahr später kam der Fischer mit dem geschuldeten Geld zu dem Samurai. “ Behalte das Geld“, sagte der Samurai, „ich bin es, der dir etwas schuldet, und nicht umgekehrt.“

Wir sehen also in Okinawa-Karate nicht nur die Verschmelzung der großen Kampfkunsttraditionen von China und Japan, sondern wir erkennen auch den Geist der okinawanischen Nation. Theorie und Praxis des Karate verkörpern den friedlichen Stoizismus der Menschen, die mit der ständigen Besetzung ihrer Insel durch größere Nationen leben mußten. Die Disziplin des fortwährenden Trainings führte beim Karateka von Okinawa einen Zustand unerschütterlicher Ruhe herbei, und die Ausführung der Kata bringt ihn dem letzten Ziel aller Kampfkünste näher, der geistigen und charakterlichen Vervollkommnung des Lernenden.


Funakoshi Gichin (1868-1957)

Funakoshi Gichin wird heute gerne als Vater des modernen Karate-Do bezeichnet. Er war Volksschullehrer auf Okinawa und übte und lehrte neben seiner Lehrertätigkeit Karate. 1922 kam er im Alter von 55 Jahren auf Einladung des Kronprinzen allein nach Japan, um dort Karate vorzustellen. Seine Vorführung fand dort so starken Anklang, daß er daraufhin anfing Karate an Schulen und Universitäten zu unterrichten. Funakoshi betonte den hohen Wert der inneren Einstellung beim üben des Karate und trat stets für ein wettkampfloses Karate ein. Er war nicht nur Kampfkünstler, sondern auch Maler und Dichter. Das heutige Shotokan Karate wurde nach seinem ehemaligen Künstlernamen Shoto benannt.

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Quellen:
A. Dolin: „KEMPO – Die Kunst des Kampfes“
Howard Reid, Michael Croucher: „Der Weg des Kriegers“
Gichin Funakoshi: „Karate-Do“

Paul Trinkl, Karate Dojo Zanshin Augsburg e.V