Taoismus im Karate
Taoismus im Karate
Ein Beitrag über die Vebindung von Karate und Taoismus. Von den geistigen Wurzeln des Karate-Do bis zum „Wu Wei, Nichthandeln“.
Geistige Wurzeln des Karate-Do
Mit dem modernen Karate verbinden sich, anders als mit den klassischen (z.B. olympischen) Sportarten des Westens, im allgemeinen zwei Aspekte, die je nach individueller Neigung sowie nach Vereins- oder Verbandszugehörigkeit jeweils sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können.
Der (kampf-)sportliche Aspekt ist von der Idee des Vergleichs mit anderen geprägt; er tritt vor allem bei Wettkämpfen und Meisterschaften in den Vordergrund und richtet sich nach außen. Der Aspekt der Kampfkunst ist dagegen nach innen gerichtet; im Zentrum aller Bemühungen des Übenden steht die eigene Persönlichkeitsentwicklung und der Frieden mit sich selbst. Unter diesem Aspekt betrachtet und praktiziert hat Karate, wie die meisten fernöstlichen Kampfkünste, eine besondere geistige Dimension, eine „Tiefe“.
Zu den wichtigsten geistigen Grundlagen des Karate(-Do) gehört, neben dem in Indien entstandenen Buddhismus, die älteste chinesische Philosophieschule des Taoismus. Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft weisen beide Lehren eine Vielzahl von inhaltlichen Parallelen und wechselseitigen Verbindungen auf, so dass es im Laufe der Geistesgeschichte Chinas und Japans auch zur Bildung von philosophischen Schulen kam, die beide Strömungen in sich aufnahmen (z.B. Zen-Buddhismus).
Tao – der „Weg“
Lao-Tse („Alter Meister“), der halb-legendäre Begründer der ältesten philosophischen Schule in China, entwarf in dem (ihm zugeschriebenen) Buch „Tao-te-king“ das Bild von einem die Welt hervorbringenden und sie durchwirkenden, immer wiederkehrenden Prinzip, das eine vollkommene und namenlose Einheit verkörpert und, da es selbst der Existenz der Götter zugrunde liegt und somit noch abstrakter ist als diese, den provisorischen Namen „Tao“ (jap. Do) trägt.
Der Begriff des „Tao“ bzw. des „Do“ wurde und wird in der Literatur unterschiedlich verwendet; zuweilen werden diese unterschiedlichen Bedeutungen auch vermischt.
In seiner abstrakteren Bedeutung steht er für die letzte Wirklichkeit, in der alle Unterscheidungen zwischen gut und böse, wahr und falsch, Leben und Tod aufgehoben sind und die jenseits von aller Raumzeitlichkeit existiert – ähnlich, aber nicht gleich dem Nirwana des ursprünglichen Buddhismus.
In seiner konkreteren Bedeutung (v.a. im Zen-Buddhismus) bezeichnet er einen „Weg“, d.h. eine Lehre oder Methode zur Vervollkommnung des Geistes und des Selbst (z.B. Karate-Do: „Der Weg der leeren Hand“; Ju-Do: „Der sanfte Weg“; Aiki-Do: „Der Weg des Einklangs mit der kosmischen Energie“).
Qi – der Fluss der Energie
In der Vorstellung des traditionellen chinesischen Volksglaubens werden alle Erscheinungsformen und alle Geschehnisse in der Welt durchdrungen von einer kosmischen Kraft, die als Qì (jap. Ki; „Atem“ bzw. „Energie“) bezeichnet wird.
Die wesentlichen Merkmale dieser Kraft sind ihre Allgegenwärtigkeit und ihr ständiger Fluss; die Wirklichkeit wird somit als ein Prozess ständiger Veränderung aufgefasst, in der Qì, der „Atem“ der Welt, das einzig Bleibende darstellt. Mit der Vorstellung vom ständigen Fluss der Energie verbindet sich ein Weltbild, das dem Begriff des „panta rhei“ („alles fließt“) des griechischen Philosophen Heraklit nahe steht, demzufolge es kein unveränderliches Sein gibt.
Der Mensch ist im chinesischen Volksglauben den Fluss des Qì zwar unablässig ausgesetzt, kann ihn aber – ähnlich wie die Strömungen von Wasser und Wind – durch seine Alltagshandlungen (z.B. auch Atmung oder Bewegung) bündeln, lenken oder in bestimmte Energieformen umwandeln, um sich so dessen Wirkung zunutze machen. Für die Effektivität dieser Handlungen ist entscheidend, dass diese sich an bestimmten Harmonieregeln orientieren, für die das chinesische Denken, beginnend mit dem I-ging („Buch der Wandlungen“), eine umfangreiche Systematik entwickelt hat. Diese Vorstellung von der Harmonie von Atmung und Bewegung ist auch eine Leitidee des Karate-Do.
Yin und Yang – Ausgleich und Aufhebung der Gegensätze
Das I-ging („Buch der Wandlungen“) beschäftigt sich vordergründig mit der Deutung von Orakelzeichen, die im vorgeschichtlichen China aus der Verwendung intakter und zerbrochener Schafgarbenstengel durch Schamanen entstanden. Während jedes einzelne dieser Orakelstäbchen nur zwei mögliche Zustände (intakt/zerbrochen) hat und damit dem Schamanen nur polarisierende Aussagen nach dem Muster ja/nein, schwarz/weiß usw. erlaubt, ergibt sich durch die Verwendung mehrerer Stäbchen (z.B. sechs im I-ging) die Möglichkeit zu viel differenzierteren Deutungen.
Für das chinesische Denken wurde das durch die beiden Urkräfte Yin und Yang symbolisierte Prinzip des Ausgleichs von Gegensätzen zu einem zentralen Konzept und für die Anhänger der taoistischen Philosophie der Weg, um den göttlichen Weltgesetz in ihrem irdischen Leben möglichst nahe zu kommen. Anders als nach konfuzianistischer Lehre ist nach taoistischer Vorstellung alles, was den Menschen von seinem ursprünglichen Einssein mit dem Tao entfernt hat, das Ergebnis von Unterscheidungen, die zu bilden er in Folge seines Bewusstseins imstande ist.
Die Aufgabe, die sich daraus ableitet, ist der fortwährende Ausgleich und die Aufhebung von Gegensätzen. Davon inspiriert ist Karate-Do durch das ständige Wechselspiel von Zuständen wie Spannung/Entspannung, Vordrängen/Zurückweichen, Einatmen/Ausatmen usw. geprägt.
Wie ein Kind sein
Mit dem taoistischen Prinzip des Ausgleichs der Gegensätze verbunden ist die Leitvorstellung des letztendlichen Verschwindens des begrifflichen Denkens und aller Unterscheidungen. Angestrebt wird ein Zustand des Vor-Bewusstseins, wie er v.a. dem neugeborenen Kind noch eigen ist. Nicht konfuzianistische Erziehung, sondern gerade ihre Rückgängigmachung und die Wiederherstellung einer vollkommenen kindlichen Unbefangenheit sind also die Ideale und ein vorkultureller, glücklicher Naturzustand das Paradies des Taoisten.
Weil das Kind noch im Einklang mit sich selbst und der Welt ist, ist sein Denken und Handeln intuitiv, spontan, unverkrampft, nicht abwägend, ohne Zielvorstellung und ohne Zweckidee. Es kennt noch keine zeitliche Dimension, d.h. sein Denken ist noch nicht auf Vergangenheit oder Zukunft gerichtet, sondern allein auf das Hier und Jetzt. In Anlehnung an diese Metapher ist es das Ziel aller Übung im Karate-Do, die einzelnen Techniken so natürlich wie möglich auszuführen und dabei alle Energie in den Augenblick ihrer Ausführung fließen zu lassen. Durch das ständige Üben von Einzeltechniken und Abläufen werden diese im Laufe der Zeit automatisiert. An die Stelle des Ich-Bewusstseins des Übenden tritt ein spontanes, vegetatives Bewusstsein, d.h. nicht mehr der Kopf handelt, sondern der „Bauch“.
Wu Wei – „Nichthandeln“
Da sich die natürliche Ordnung der Welt nach taoistischer Vorstellung prinzipiell in Harmonie befindet, ist jeder Eingriff des Menschen in diese Ordnung als unsinnig und jeder Fortschritt der Zivilisation als einer alternativen Ordnung in Wirklichkeit als ein Rückschritt zu betrachten. Mit dem Konzept des Wu Wei („Nichthandeln“) wird eine Haltung bezeichnet, die daher darauf verzichtet, in die natürliche Ordnung der Welt und ihren Verlauf einzugreifen.
An die Stelle des künstlichen Eingriffs tritt das Gewährenlassen des natürlichen Laufs der Dinge; bevorzugt wird eine Haltung, die einer in der Umwelt existierenden Kraft keine menschliche Kraft mehr entgegengesetzt. Im Ergebnis erscheinen die Tätigkeit des menschlichen Geistes und das menschliche Handeln immer subtiler, bis sie schließlich in der Wahrnehmung eines gedachten Beobachters völlig verschwinden.
Im Karate-Do wäre Wu Wei als das Entwicklungsziel eines meisterhaften Karateka zu verstehen, durch Intuition und blindes Verständnis der Situation bereits im voraus die jeweils angemessene Handlung zu erkennen und damit einem Angriff vorzubeugen. Treffen zwei solche Karateka aufeinander, so wird nach dem Prinzip des „Handelns durch Nichthandeln“ kein Kampf mehr stattfinden.
Dr. Kai-Christian Muchow
Karate Dojo Zanshin Augsburg e.V.